Mercedes 350 SL
Die Versicherungsbranche ist nicht gerade das, was ich mir als Ausbund eines groovy Business mit täglichen freudigen Begeisterungsschüben, wilden Partys oder gar geziemendem Starrummel vorstelle. Da passt es doch, dass mein Freund und Versicherungsmann Alain einen Mercedes 350 SL sein Eigen nennt: ein grundsolides, unaufgeregtes Gerät in noch viel unaufgeregterem Weiss und knuffig blauem Interieur, ausgestattet mit einem surrenden V8 und einem Automatikgetriebe. Zum Trost hat der Wagen, seiner Bestimmung als Oberklassekomfortsportcabriolet gemäss, ein zu öffnendes Dach. So kommt der SL-Fahrer in den Genuss eines Quäntchens Freude und Hochgefühl. So weit meine Vorurteile.
Selbstverständlich kennt Alain diese nicht. Sonst wäre er wohl gar nicht zu unserer Verabredung gekommen. So aber braust er mir mit einem gepflegten Grinsen auf den Stockzähnen in versicherungstechnisch fragwürdiger Manier entgegen wie weiland Bobby Ewing in der Fernsehserie «Dallas» seiner geliebten Pam. Wenn auch Alains Haarpracht derjenigen Bobbys in keiner Weise nachsteht, so sind doch die Zeiten andere: Damals zeitgenössisch angeberisches Statussymbol mit Kühlerstern in Langspielplattengrösse und einem Chromanteil über 50%, wird die R 107 genannte Baureihe heute auch bei jungen Menschen im gleichen Mass beliebter, wie sie im Strassenbild seltener auftaucht. Zumal Modelle in anständigem Zustand sehr viel Auto für verhältnismässig wenig Geld bieten. In mir aber wallt noch nichts. Ausser Freude, den Alain zu sehen. Zu gut bekannt ist mir die Erscheinung des in unglaublichen 18 Jahren Produktionszeit fast 240'000 mal gebauten Roadsters. Ich habe ihn erst 1989, im Moment der Präsentation seines Nachfolgers R 129, des idealen Dienstfahrzeugs für die Panzerknacker, als fast zierlich empfunden. Trotz der gut anderthalb Tonnen, die das Kürzel SL für «Super Leicht» zum gelungenen Scherz machen. Und jetzt setze ich noch einen drauf: mich. Eingestiegen in eine besondere Umgebung. Eine leuchtend blaue. Geschmacksache. Und in dieser auf Solidität und Perfektion getrimmten Umgebung ohne Extreme sogar freaky. Das gefällt mir. Der Rest des Innern ist, sagen wir, robust. Mich schaudert leicht, ich hoffe, beim Start erklinge keine Marschmusik: Das Lenkrad im Lastwagenformat und der wohl kiloschwere Blinkerhebel erinnern mich deutlich an unzählige Fahrten im Puch G während meiner Armeezeit. Nur fehlte dort natürlich die Einbettung in den unerschütterlichen Komfort des SL. Breite Sitze federn mich hier ab, die Materialien sind auch ohne Haptikabteilung in Divisionsstärke erstklassig und die Verarbeitung so, wie man sie sich in einem Mercedes wünscht. Und bekommt.
Dann geht’s los. So gezähmt wie das Äussere ist der Sound des Achtzylinders. Aber nicht die Kraft: die superleichten 1540 Kilo werden in achteinhalb Sekunden von 200 Pferdestärken auf 100 km/h gestemmt. Das ist nicht nur für einen Komfortsportler von 1972 ansehnlich. Und trotz oder gerade wegen der 3-Gang-Automatik bekommt das Fahren im R 107 den richtigen Charakter: Er ist zum offenen Cruisen gebaut, für schöne Gespräche, die auch bei zügigen Geschwindigkeiten mehr von einem Säuseln als von Windgeräuschen begleitet werden. Die Verzögerung der vier Scheibenbremsen ist ebenso nachhaltig wie der Verbrauch, der für den Stadtverkehr mit vorsichtigen 22 Litern auf 100 Kilometer angegeben wird. Man stelle sich den Benzindurchlauf bei der Höchstgeschwindigkeit von 210 km/h vor. Aber die fahren ja nur automobile Rüpel. Der R 107 will vielmehr zügig über Landstrassen getrieben werden. Das ist es, was Alain geniesst und mich nachhaltig beeindruckt. Und die völlige Alltagstauglichkeit, der gutdeutsche Komfort, der gediegene Fahrgenuss, die Unverwüstlichkeit, die zeitlose Zeichnung sowie die heutige Bescheidenheit einer seinerzeitigen Protzkiste in Diensten nicht nur von Bobby Ewing. Sondern auch von Udo Jürgens, Uschi Glas oder Alains Grossvater. Der gab den Wagen seinem Sohn weiter, der ihn dann seinem Sohn weitergab. Der vierjährige Noël, Alains Sohn, kann sich also freuen.
Aus: SwissClassics - Das Oldtimermagazin der Schweiz, Heft 09-1/2006.
Autor: Christoph von Arb